Spaziergänge sind in der aktuellen Corona-Situation in aller Munde. Um den Auflagen angemeldeter Demos zu entgehen, wird auf «Spaziergänge» gesetzt. Tausende kleine und grosse derartige Protestaktionen häufen sich derzeit auf deutschen Strassen. Die Reaktion der Politik auf diese Aktionen erscheint mir eher rat- und hilflos. Seit zwei Jahren nimmt die Kritik an unlogischen Regeln, schlechter Kommunikation, eher unzulänglichen Impfstoffen, zweifelhaften Vorteilsnahmen von Politik und Wirtschaft zu. Seit zwei Jahren macht sich in der Bevölkerung immer mehr das Gefühl breit, durch Ahnungs- und Ziellosigkeit der Politiker hin und her geschubst zu werden. Widersprüchlichkeiten der «Wissenschaft» werden ignoriert und gleichzeitig die Aufforderung erteilt, «der Wissenschaft» gebührenden Respekt und Glauben zu schenken. Dass da der Unmut wachsen musste, ist selbst dem geduldigsten Zeitgenossen nicht zu verdenken. Ein Hoffnungsschimmer kam auf, als unser neu gewählter Bundeskanzler, Olaf Scholz, die Einberufung eines interdisziplinären Expertengremiums ankündigte. Dies ist nun auch schon seit einigen Wochen im Einsatz. Und zeichnet sich eine Veränderung ab? Eher nicht.

Kritiker sind noch immer «Schwurbler», «Aluhüte», oder ähnliches. Wer den Mund aufmacht, riskiert seinen Ruf und seinen Job. Und die Spaziergänger werden immer noch gerne in die rechte Ecke gestellt,  kriminalisiert und als Extremisten abgetan. Letztere mag es ja vielleicht tatsächlich hier und da geben, aber die grosse Masse der Bewegung kommt wohl eher aus der Mitte der Gesellschaft und bietet ein klar friedliches Bild.

Langsam frage ich mich, wo die eigentlichen Schwurbler sitzen. Sind es nicht eher die, die noch immer ohne vernünftiges Zahlenmaterial versuchen, Logeleien zu verargumentieren, die schon der geringsten Prüfung durch einen Grundschüler nicht standhalten können? Es wird Zeit, dass Klartext gesprochen wird.

Fehler werden auf allen Seiten gemacht – sowohl auf Seiten der Corona-Regel-Befürworter als auch auf der Seite der Corona-Regel-Ablehner. Auch wenn Herr Scholz, wie in einem Interview gesagt, keinen Spalt durch die Gesellschaft gehen sieht, ist dieser da und wenn wir nicht behutsam sind, wird dieser immer grösser. Aufgabe der Politiker aber muss es doch sein, die Gesellschaft zu einen und das Land zu führen. Dafür sind sie gewählt. Unsere neue Regierung hat den Anspruch erhoben, Regierung aller Deutschen zu sein, also auch derer, die sie nicht gewählt haben. Aber also auch derer, die mit ihren Gesetzen nicht einverstanden sind. Darin zeigt sich doch gerade Demokratie. Das Vertrauen der Bürgerschaft in Politik, Wirtschaft und Presse hat stark gelitten. Um nun Vertrauen wieder zu gewinnen, ist es an der Zeit, inne zu halten und selbstkritisch und offen die Aktivitäten der vergangenen zwei Jahre zu beleuchten. Es ist an der Zeit, auf allen Seiten Fehler einzugestehen, um eine Basis für ein neues «Gemeinsam» zu schaffen. Es ist an der Zeit, Verfilzungen zwischen Politik, Wissenschaft und Presse aufzulösen, um einen gesunden Diskurs zu fördern und Wissenschaft wieder «frei» ausüben zu können.

Wir fordern hierzu von unseren Verantwortlichen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene einen offenen, selbstkritischen Umgang mit den Entscheidungen der vergangenen zwei Jahre sowie die Bereitschaft zum Eingeständnis von Fehlern. Wir fordern von Gegnern der bisherigen Politik die Bereitschaft zur Fehlertoleranz, wo diese denn von Verantwortlichen zugegeben werden. Wir fordern von allen Seiten die Bereitschaft, wieder neu aufeinander zuzugehen und tatsächlich gemeinsam aus dieser Krise herauszufinden.

Tun wir dies nicht, werden sich weiter Fronten bilden und verhärten. Das wäre das Gegenteil dessen, wofür wir als Land stehen, für Einigkeit und Recht und Freiheit.

Jürgen Graalfs
Vorsitzender Landesverband Baden-Württemberg